Zur Umgrenzungsfunktion des Anklageprinzips

Viele Richter sagen, Verteidiger würden die Rüge der Verletzung des Anklageprinzips immer dann vortragen wenn sie in der Sache keine Argumente haben. Solche Äusserungen kann eigentlich nur machen, wer das der StPO zugrundeliegende Prozessmodell nicht versteht. Was heute regelmässig erfolglos bleibt, ist die Anrufung der Informationsfunktion des Anklageprinzips. Nach wie vor zentral ist aber die Umgrenzungsfunktion, ohne die es gar nicht möglich ist zu bestimmen, was Prozess- und Beweisthema ist. Oft ist es daher nicht die Staatsanwaltschaft, welche das Anklageprinzip verletzt, sondern das Gericht, das seinem Urteil Handlungen zugrunde legt, die über den Anklagesachverhalt hinausgehen.

Daran erinnert das Bundesgericht in einem aktuellen Entscheid (BGer 6B_1391/2017 vom 17.01.2019):


Nach dem in Art. 9 Abs. 1 StPO festgeschriebenen Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; vgl. auch Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert deren Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 143 IV 63 E. 2.2; 141 IV 132 E. 3.4.1; 140 IV 188 E. 1.3; je mit Hinweisen). Die beschuldigte Person muss aus der Anklage ersehen können, was ihr konkret vorgeworfen wird. Erforderlich ist eine zureichende, d.h. möglichst kurze, aber genaue (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO) Umschreibung der Sachverhaltselemente, die für eine Subsumtion unter die anwendbaren Straftatbestände erforderlich sind (BGE 143 IV 63 E. 2.2). Ungenauigkeiten sind solange nicht von entscheidender Bedeutung, als für die beschuldigte Person keine Zweifel darüber bestehen, welches Verhalten ihr angelastet wird (Urteil 6B_684/2017 vom 13. März 2018 E. 2.2 mit Hinweisen). Sie darf jedoch nicht Gefahr laufen, erst an der Gerichtsverhandlung mit neuen Anschuldigungen konfrontiert zu werden (BGE 143 IV 63 E. 2.2 S. 65 mit Hinweisen) [E. 2.3].  

Und auf den konkreten Fall angewendet:

Der Schuldspruch wegen Raufhandels verletzt Bundesrecht. Die dem Schuldspruch zugrunde gelegten vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen gehen über den in der Anklage umschriebenen Lebenssachverhalt hinaus. Der Anklageschrift ist bereits nicht zu entnehmen, ob und wenn ja, wie (aktiv oder passiv) der Beschwerdeführer an der Auseinandersetzung auf der Tanzfläche beteiligt gewesen sein soll. Die Anklageschrift schildert lediglich eine aktive Beteiligung von drei anderen Personen sowie ein schlichtendes – da nicht anders nachweisbares – Eingreifen einer vierten Person. Eine allfällige Beteiligung des Beschwerdeführers und der dritten Person der gegnerischen Gruppe beschreibt sie hingegen nicht. Auch schildert die Anklage weder eine Beteiligung des Sicherheitsmitarbeiters A. an der Auseinandersetzung auf der Tanzfläche im Club noch eine fortgesetzte Auseinandersetzung der vormalig Beteiligten vor dem Club. Wäre der von der Vorinstanz festgestellte Lebenssachverhalt angeklagt, käme der ausführlich erörterten Rechtsfrage, ob die Auseinandersetzungen im und vor dem Club einen einheitlichen Lebenssachverhalt darstellen, keine oder allenfalls untergeordnete Bedeutung zu (E. 2.4.1).

Damit kann die Verteidigung weiterhin punkten.