Zur Umwandlung von Bussen gemäss Art. 10 Abs. 3 VStrR
Auf verwaltungsstrafrecht.ch setzt sich Jonas Achermann kritisch mit einem Urteil des Bundesstrafgerichts auseinander, in dem der Einzelrichter zugunsten des Betroffenen vom klaren Text von Art. 10 Abs. 3 VStrR abgewichen ist (BStGer SK.2020.9 vom 17.06.2020). Im Ergebnis begrüsst Achermann trotz seiner grundsätzlichen Bedenken den Entscheid:
Aufgrund dieses letztgenannten Umstands [gemeint sind die Vorteile für den Verurteilten] fallen nach meiner persönlichen Auffassung bei einer Abwägung die bundesstrafgerichtlich vorgebrachten Argumente stärker ins Gewicht, als die dagegen sprechenden grundsätzlichem Bedenken.
Als Strafverteidiger begrüsse ich das Ergebnis im Einzelfall natürlich auch. Bei mir überwiegen eher die Bedenken gegen richterliche Lückenfüllung im Strafrecht. In den meisten Fällen wird sie sich nämlich nicht für, sondern gegen den Betroffenen auswirken, was die Rechtsprechung des Bundesgerichts beispielsweise im Haftrecht deutlich belegt.
Nur dass es sich m.A.n. vorliegend nicht um eine Lückenfüllung handelt (wo das Gesetz schweigt), sondern um ein Zuwiderhandeln gegen den expliziten und glasklar geäusserten Wortlaut des Gesetzes.
In Art. 10 Abs. 3 VstR steht nun mal der fixe Umwandlungssatz von 30 Franken. Ob man das als Richter nun angesichts der abweichenden Bestimmungen des StGB “mag” oder “nicht mag”, bzw. ob dadurch materiell eine Veränderung der Strafe stattfindet (obwohl dieses Gesetz wahrscheinlich damals schon galt), darf bei einer derart klaren Formulierung meiner Ansicht nach keine Rolle spielen.
Irgendwo müssen Bundesgesetze doch noch etwas gelten.
@Verfassungsrechtler: unechte Lücke.
Genau. “Unechte Lücken” …
(ein unglückliches Wort; besser: “rechtspolitische Lücken” oder noch besser: “eine klare, nicht auslegungs- oder lückenfüllungsbedürftige Gesetzesnorm mit welcher einzelne, meistens rechtstheoretisch geschulte Personen aus dogmatischen oder sonstigen Gründen nicht einverstanden sind”)
… sind aber keine richtigen Gesetzeslücken und dürften eigentlich nicht richterlich mittels Auslegung gefüllt werden. So sehr mal das als Richter vielleicht will. Man darf es schlicht nicht.
Sonst kann letztlich alles im Gesetz ausgehebelt werden. Das ist eine Frage der Gewaltenteilung.
@verfassungsrechtler. Was sagen Sie zum argument des gerichts, der ansatz von fr. 30 würde in unerträgliche widersprüche zum strafurteil geraten? Gemäss gericht würde unter zugrundelegung des ansatzes von fr. 30 im ergebnis eine strafe resultieren, die nicht schuldangemessen wäre, was bekanntlich rechtswidrig ist. Soll das einfach hingenommen werden?
@Verfassungsrechtler: nach “moderner” Methodenlehre (etwa Kramer) wird die sog. unechte Lücke mittels teleologischer Reduktion oder Extension gefüllt, was – auch strafrechtsdogmatisch – im Lichte des Bestimmtheitsgebots zu Gunsten von Beschuldigten unproblematisch erscheint. 1 Tag Ersatzfreiheitsstrafe pro CHF 30 lässt sich nur unter der Prämisse rechtfertigen, dass dieser Betrag das mit einem Tag Freiheitsentzug auszugleichende Verschulden abbildet, was nur der Fall wäre, wenn die Bussenhöhe ohne Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse ermittelt worden wäre, was weder in casu noch im VStrR im Allgemeinen der Fall ist. Eine Korrektur dieser gesetzgeberischen “Unvollkommenheit” anhand des Telos – gleiche (Ersatz-)Freiheitsstrafe für gleiches Verschulden – erscheint auch im Lichte der Verfassung (Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit../Verhältnismässigkeitsprinzip) als zulässige Rechtsfindung praeter legem (sog. Richterrecht).
Wie gesagt lässt das Bundesgericht diese selbsternannte “moderne” Methodenlehre nicht zu: Der aktuelle copy-paste Blocksatz des Bundesgerichts dazu lautet:
“[…] Echte Lücken zu füllen, ist dem Gericht aufgegeben, unechte zu korrigieren, ist ihm nach traditioneller Auffassung grundsätzlich verwehrt” (BGE 143 I 187, E. 3.2; BGE 141 V 481 E. 3.1 S. 485; BGE 139 II 404 E. 4.2 S. 417).
Es gibt damit keinen gültigen Rechtsgrundsatz, dass man zu Gunsten eines Kriminellen klare, nicht auslegungsbedürftige Gesetze ignorieren oder gar ändern darf.
Was natürlich legitim ist, dass man sich politisch wünscht, dass Gesetze zu Gunsten von Kriminellen ignoriert werden dürfen. Eine zulässige politische Ansicht, wenn auch m.A.n. komplett hirnrissig.
Der Entscheid eines erstinstanzlichen Einzelrichters des Bundesstrafgerichts verdient nüchtern betrachtet etwa soviel Beachtung wie ein solcher des Einzelrichters des Bezirksgerichts Willisau oder Muri.
Da missachtet ein unbedarfter Einzelrichter (CVP-Gutmensch) am Bundesstrafgericht ganz klar eine unmissverständliche Gesetzesbestimmung. Ein gewisser Herr Achermann aus Lozärn (man muss ihn nicht unbedingt kennen, kaum praktische Erfahrung, sog. Wissenschafter) findet das absolut ok. Und der geschätzte Herr Jeker (ihn MUSS man allerdings kennen) „begrüsst als Strafverteidiger dieses Ergebnis im Einzelfall natürlich“. Meine Güte, wo leben wir denn eigentlich ?
Weshalb sollte man den Jeker kennen? Ich habe ihn gegoogelt und dann herausgefunden, dass er kürzlich von seiner eigenen AG übernommen wurde:
https://so.chregister.ch/cr-portal/auszug/auszug.xhtml?uid=CHE-334.787.084
Also gibts den eigentlich gar nicht mehr?
@Chaschmrs gloubä: Stimmt, ich bin untergegangen. Unfriendly takeover.
@Ulrich Lückner: Dazu habe ich meine persönliche Meinung schon oben dargelegt:
(1.) Dieser Umstand rechtfertigt es nicht, ein Bundesgesetz mit einer klaren, lückenlosen und nicht auslegungsbedürftigen Spezialregelung einfach zu ignorieren. Wenn die Bestimmung “falsch” ist, müsste sie durch das Parlament korrigiert werden. Einfache Gewaltenteilung.
(2.) Von einer schuldunangemessenen Strafe kann ferner meiner Ansicht nach keine Rede sein: Erstens geht es nicht um die rechtskräftige Sanktion selber, sondern um die Ersatzmassnahme in Form Umwandlung einer Busse. Zweitens war dieser mögliche Umstand mitsamt dem Umwandlungssatz zum Urteilszeitpunkt absehbar, da Art. 10 Abs. 3 VStR bereits seit Jahrzehnten gilt und auch so angewendet wird.
Über Auslegung und Lückenfüllung kann man natürlich immer diskutieren. Vorliegend gibt es aber meiner Ansicht nach nun wirklich fast keinen Spielraum, ohne eine Norm eines Bundesgesetz faktisch aufzuheben.