Zur Verwertbarkeit anonymer Zeugenaussagen

In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid heisst das Bundesgericht eine Nichtigkeitsbeschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen ein Urteil des Kassationsgerichts gutgeheissen (Urteil 6S.59/2006 vom 02.11.2006). Dieses hatte einen Entscheid des Geschworenengerichts kassiert, weil der Schuldspruch wegen eines Tötungsdelikts massgebend auf den Aussagen eines anonymisierten Zeugen beruht habe, deren deren Verwertung mit Art. 6 EMRK unvereinbar sei:

Dass nämlich nicht nur der Beschwerdegegner, sondern auch die Verteidigung an der Befragung lediglich akustisch, nicht aber audio-visuell habe teilnehmen können, stelle eine konventionswidrige Einschränkung der Verteidigungsrechte (Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK) dar. Darüberhinaus verletze das konventionsrechtliche Fairnessgebot (Art. 6 Ziff.1 EMRK), dass sich das Geschworenengericht für den Schuldspruch massgeblich auf den anonymisierten Zeugen habe stützen müssen (E. 2.3).

Da dem öffentlichen Ankläger die staatsrechtliche Beschwerde nicht zur Verfügung steht, machte die Oberstaatsanwaltschaft allein geltend, der angefochtene Beschluss verletze den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäss Art. 249 BStP, welcher zum eidgenössischen Recht im Sinne von Art. 269 Abs. 1 BStP gehört. Dem folgte das Bundesgericht:

Mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung unvereinbar ist es jedoch auch, wenn einem bestimmten Beweismittel in allgemeiner Weise die Beweiseignung abgesprochen wird. Dies ist hier bezogen auf die anonymisierte Zeugenaussage der Fall. Denn die Anonymisierung eines Zeugen liesse sich nicht mehr konsequent durchführen,wenn dessen Identität gegenüber dem Verteidiger offengelegt werden müsste. Das Beweismittel der Zeugenaussage als solche bleibt zwar möglich, so dass insoweit dieses Beweismittel nicht in genereller Weise ausgeschlossen wird. Im Falle des gefährdeten Zeugen wäre dies jedoch eine gänzlich theoretische Betrachtungsweise, die jede Rücksicht auf die realen Verhältnisse vermissen liesse. Den Zeugen, der – sofern ihm kein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht – zur Aussage verpflichtet ist, unter Lebensgefahr zu Aussagen zu verhalten, kann nicht eine realistische Form der Abnahme des Zeugenbeweises sein. Deshalb schliesst die Auffassung des Kassationsgerichts, der Zeugenbeweis sei im Falle des gefährdeten Zeugen unverwertbar, wenn auch der Verteidiger nur indirekt, ohne Sichtkontakt, die Ergänzungsfragen stellen könne, dieses Beweismittel zum vornherein und in allgemeiner Weise aus. Dies ist mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht vereinbar (E. 2.5).

Eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung ergibt sich überdies aus der weiteren vom Kassationsgericht erhobenen prozessualenA nforderung, dass anonymisierte Zeugenaussagen lediglich dann verwertet werden dürfen, wenn ihnen kein massgebender Beweiswert zukommt […]. Damit wird das Institut der anonymisierten Aussage letztlich seines Sinnes entleert. Denn wenn eine Zeugenaussage nur verwertet werden darf, wenn sie keine massgebende Bedeutung hat, kann auf sie gerade so gut verzichtet werden. Mit dem Beschluss des Kassationsgerichts wird folglich die anonymisierte Zeugenaussage formal zwar für zulässig erachtet, praktisch aber ausgeschlossen (E. 2.6).

In der Folge prüfte das Bundesgericht, ob die EMRK die Unverwertbarkeit der anonymisierten Zeugenaussage verlange. Dabei setzt es sich mit der Rechtsprechung des EGMR (Kok gegen Niederlande, Recueil CourEDH 2000-VI S. 629; van Mechelen, Recueil CourEDH 1997-VII S. 2426; Doorson, Recueil CourEDH 1996-II S. 446,Ziff. 69; Krasniki vom 28.2.2006) und insbesondere mit seiner eigenen ausführlich auseinander, um dann festzustellen, dass all dies im konkreten Fall gar keine Rolle spiele:

Der zu beurteilende Fall gibt freilich keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, ob die Aussage eines anonymisierten Zeugen unter den genannten Voraussetzungen auch einen Schuldspruch zu tragen vermag, wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen. Selbst wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Verfahrensgarantien der EMRK es verbieten, einen Schuldspruch ausschliesslich oder entscheidend auf eine anonymisierte Aussage zu stützen, würde dies im vorliegenden Fall einem Schuldspruch nicht entgegenstehen ( E. 4.4.1).

Nach einer Darstellung der übrigen Beweise folgert das Bundesgericht schliesslich:

Der zu beurteilende Fall gibt freilich keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, ob die Aussage eines anonymisierten Zeugen unter den genannten Voraussetzungen auch einen Schuldspruch zu tragen vermag, wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen. Selbst wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Verfahrensgarantien der EMRK es verbieten, einen Schuldspruch ausschliesslich oder entscheidend auf eine anonymisierte Aussage zu stützen, würde dies im vorliegenden Fall einem Schuldspruch nicht entgegenstehen (E. 4.4.3).