Zur Wirksamkeit nachträglicher Siegelungsbegehren

Das Bundesgericht beantwortet wichtige Fragen rund um das nachträgliche Siegelungsbegehren nach Art. 248 StPO (BGer 1B_309/2012 vom 06.11.2012, Fünferbesetzung).

Zunächst stellt das Bundesgericht klar, dass auch die im Übertretungsstrafrecht zuständige Verwaltungsbehörde Hausdurchsuchungen und vorläufige Sicherstellungen anordnen kann, dies unter besonderer Nachachtung der Verhältnismässigkeit (was immer das bei Übertretungen auch heissen mag):

 

Hausdurchsuchungen und vorläufige Sicherstellungen sind gesetzlich vorgesehen und nicht auf die Verfolgung von Vergehen oder Verbrechen beschränkt (Art. 244 und Art. 263 Abs. 3 StPO). Sie können somit grundsätzlich, unter besonderer Nachachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes (Art. 197 Abs. 1 lit. c-d und Abs. 2 StPO), auch von der zuständigen Verwaltungsbehörde im Übertretungsstrafverfahren erlassen werden (…) [E. 4.2)]

Dann löst das Bundesgericht Fragen, die sich in der Praxis bei Siegelungen immer wieder stellen. Es handelt sich um Fragen der wirksamen Rechtsausübung, der Rechtsbelehrung und der Beweislast für wirksame Rechtsbelehrung. Diese sind deshalb wichtig, weil die Betroffenen anlässlich der Hausdurchsuchung selbst regelmässig keine Siegelung verlangen und auch gar nicht wissen, was es damit auf sich hat. Es wird ihnen ein Formular vorgelegt, das sie in der Regel ungelesen und unverstanden unterzeichnen. Dem schiebt das Bundesgericht nun einen Riegel. Es betont, dass der Rechtsschutz Aufklärung voraussetzt:

Damit ein betroffener juristischer Laie aber den gesetzlichen Rechtsschutz überhaupt wahrnehmen kann, muss er darüber ausreichend und rechtzeitig informiert worden sein. Das bedeutet, dass die Untersuchungsbehörde, wenn sie Gegenstände und Aufzeichnungen vorläufig sicherstellt, den betroffenen Laien anlässlich der Hausdurchsuchung darüber zu informieren hat, dass er, falls er Geheimnisrechte geltend machen möchte, die einer Durchsuchung bzw. Beschlagnahme von vorläufig sichergestellten Gegenständen und Aufzeichnungen entgegenstehen könnten, deren Siegelung verlangen kann (vgl. Art. 247 Abs. 1 i.V.m. Art. 143 Abs. 1 lit. c und Art. 248 StPO; …). Diese Information kann mit der Befragung des Betroffenen über den Inhalt der sichergestellten Dokumente und Datenträger (welche gemäss Art. 247 Abs. 1 StPO vor deren Durchsuchung zu erfolgen hat) verbunden werden. Ebenso ist der Laie darüber in Kenntnis zu setzen, dass nach erfolgter Siegelung (und auf allfälliges Entsiegelungsgesuch der Untersuchungsbehörde hin) der Entsiegelungsrichter über die Zulässigkeit der Durchsuchung entscheidet, und dass der Betroffene mangels sofortigen Siegelungsgesuches den genannten Rechtsschutz verwirkt bzw. mit der Durchsuchung rechnen muss.

Im zu beurteilenden Fall war die Rechtsbelehrung umstritten. Das Bundesgericht auferlegt die Beweislast bezüglich der rechtzeitigen Belehrung der Behörde:

Die Information der Betroffenen über ihre Verfahrensrechte muss rechtzeitig, das heisst spätestens nach Abschluss der Hausdurchsuchung, und inhaltlich ausreichend erfolgen. Dass sie hier erfolgt wäre, lässt sich den Hausdurchsuchungsprotokollen nicht entnehmen. Ein blosser Abdruck von – nicht einmal einschlägigen – Gesetzesbestimmungen auf der Rückseite der verwendeten Formulare vermag als ausreichende Orientierung der Betroffenen über ihr Siegelungsrecht offensichtlich nicht zu genügen. Die Untersuchungsleitung hat vielmehr verständliche Informationen im Sinne der obigen Erwägungen (E. 5.3) rechtzeitig abzugeben. Dies gilt zumindest bei von Hausdurchsuchungen betroffenen juristischen Laien. Dass eine solche Information erfolgt sei, hat die Verfahrensleitung (aus Rechtssicherheitsgründen und in ihrem eigenen Beweissicherungsinteresse) ausdrücklich und nachvollziehbar zu protokollieren (vgl. Art. 143 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. c StPO). Ohne den Nachweis einer ausreichenden Information der Betroffenen über ihre Verfahrensrechte ist eine “konkludente” Einwilligung in die Durchsuchung nicht zu vermuten (…) [E. 5.7, Hervorhebungen durch mich].

In der Folge hält das Bundesgericht zudem fest, dass die verwendeten Protokollformulare mit den ankreuzbaren Kästchen und die Durchsuchungsbefehle selbst nicht reichen, um die erfolgte Belehrung zu belegen. Das heisst, dass die nachträglich auf Instruktion des Rechtsvertreters hin geltend gemachte Siegelung frist- und formgültig erfolgt ist.

Das Bundesgericht hat schliesslich auch das nachträgliche Siegelungsbegehren eines Anwalts als rechtswirksam beurteilt:

Ein nach den vorliegenden Umständen rechtzeitiges Siegelungsgesuch hat auch der Beschwerdeführer 3 bezüglich der sichergestellten Anwaltskorrespondenz eingereicht (vgl. Art. 248 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 lit. a und lit. c und Abs. 3 StPO), zumal der betroffene Anwalt (und Mitinhaber der Anwaltsakten) erst nachträglich von den Sicherstellungen erfuhr und dann zeitnah (auch im eigenen Namen) ein förmliches Siegelungsbegehren stellte. Damit hat ebenfalls eine Siegelung der sichergestellten Anwaltsakten (bzw. anwaltlichen elektronischen Dateien) zu erfolgen. Die von den Beschwerdeführern 1 und 3 diesbezüglich geltend gemachten Geheimnisschutzgründe sind – im Falle eines Entsiegelungsgesuches der Untersuchungsbehörde – vom zuständigen Zwangsmassnahmengericht zu prüfen.

Leider hatte das Bundesgericht die Verhältnismässigkeit der Zwangsmassnahmen nicht zu prüfen. Angesichts des Übertretungsvorhalts (Lotteriegesetz) wäre es wohl nicht leicht gefallen, die Verhältnismässigkeit zu begründen.