Zustellfiktion beim Verteidiger
Ein Berufungskläger hat die Rechtsmittelfrist verpasst, weil sein Verteidiger die Zustellung des anzufechtenden Urteils übersehen zu haben scheint. Das Bundesgericht lässt die Folgen der Fiktion beim Berufungskläger eintreten, obwohl dessen Verteidiger bekanntlich nicht Vertreter, sondern lediglich Beistand ist (was im Urteil des Bundesgerichts aber nicht thematisiert wird; BGer 6B_223/21013 vom 05.04.2013):
Der Verteidiger begründet das von ihm vermutete Fehlverhalten des Postboten damit, dass dieser für alle Einschreiben, die am fraglichen Tag an das Anwaltsbüro gingen, während rund zwanzig Minuten hätte Abholungseinladungen ausfüllen müssen, wofür die Zeit nicht gereicht habe. In zwanzig Minuten hätte der Postbote eine grosse Anzahl von Abholungseinladungen ausfüllen können. Wenn er dies unterlassen hätte, bedeutete es, dass er auch eine ebenso grosse Anzahl von Einschreiben für die sieben Anwälte pflichtwidrig wieder auf dem Postamt deponiert hätte. Der Verteidiger nennt jedoch keinen einzigen anderen Fall, in dem es zu den Unregelmässigkeiten gekommen wäre, die er für die vorliegend interessierende Zustellung behauptet.
Gesamthaft gesehen vermag der Verteidiger die Zustellvermutung nicht zu widerlegen. Es spricht einiges dagegen, dass seine Annahmen den Tatsachen entsprechen könnten. Viel eher ist davon auszugehen, dass der Postbote für das Einschreiben in Übereinstimmung mit dem Eintrag in „Track & Trace“ ordnungsgemäss eine Abholungseinladung ausfüllte und diese mit der übrigen Post in den Briefkasten des Verteidigers legte. Dass dieser die Abholungseinladung in der Folge nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig zur Kenntnis nahm, hat er selber zu vertreten (E. 2.3).
Wenn ein Postbote also eine Einschreiben-Benachrichtigung versehentlich nicht einwirft, können erhebliche Nachteile drohen. So schnell-geschrieben und liederlich ausgefüllt, wie Einschreibe-Benachrichtigungen oft aussehen, wenn man sie ansieht, dann kann man sich sehr gut vorstellen, daß das passieren kann.
Mir ist es sogar schon auf einer Poststelle im Domleschg passiert, daß ich ein Einschreiben aufgegeben habe und die Bestätigung dafür erhalten habe aber es versehentlich wieder mitnahm, weil der Postbeamte es mir zurückgegeben hatte. Ich bemerkte es und klopfte an der Scheibe des Postamts. Es wurde geöffnet und ich übergab den Einschreibebrief. Hätte ich ihn behalten, hätte ich die Bestätigung gehabt, ein Einschreiben aufgegeben zu haben, was nie hätte ankommen können.
Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler.
Eine andere Frage ist noch, ab wann eine Zustellfrist läuft, etwa von einem Gericht oder einer Staatsanwaltschaft, wenn in dem Schreiben steht: „innert einer Frist von 10 Tagen seit Erhalt dieser Mitteilung“.
Beispiel: Einschreibebenachrichtigung des Einschreibens vom 26. März 2014 am 27. März erhalten. Abgeholt das Einschreiben am 4. April 2014. Ab wann beginnt die Frist von 10 Tagen zu laufen, wenn „seit Erhalt“ im Schreiben steht? Gilt der Tag des Erhalts auch, zählt er zu den „10 Tagen“? Und ab wann läuft die Frist? Ab Abholung (4. April) oder ab Zustellung (27. März)?
Fragen über Fragen, bei denen Laien wohl kaum durchsteigen.