Zustellfiktion und postalische Abholungsfrist
Das Bundesgericht entscheidet eine wichtige Frage zum Fristenlauf bei der Einsprache gegen einen Strafbefehl, die Strafverteidigern in der Praxis immer wieder gestellt wird (BGer 6B_1430/2020 vom 15.07.2021). Es geht um die von der Post angebotene Dienstleistung der Zurückbehaltung von Einschreiben. Das Bundesgericht stellt klar, dass eine Zurückbehaltung die Zustellfiktion nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO nicht beeinflusst. Argument des Bundesgerichts sind die Vernunft und die Rechtssicherheit:
Es muss als notorisch bezeichnet werden, dass eingeschriebene Post am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellversuch als zugestellt gilt. Diese Regelung kann – entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers – vernünftigerweise nur dahingehend verstanden werden, dass die Zustellung gemäss dem Gesetz nach Ablauf der Siebentagesfrist erfolgt ist, unabhängig davon, ob der Adressat die Sendung zur Kenntnis genommen hat oder nicht. Andernfalls ginge die gesetzliche Zustellfiktion nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO ins Leere und entstünde hinsichtlich des für den Beginn von Rechtsmittelfristen massgebenden Zustellzeitpunkts eine nicht hinnehmbare Rechtsunsicherheit, die durch die Zustellfiktion gerade vermieden werden soll. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist die gesetzliche Regelung somit nicht missverständlich und vermag daher die diese wiedergebende, mithin fehlerfreie Rechtsmittelbelehrung nach Treu und Glauben keinen Anspruch auf Wiederherstellung der Frist zu begründen. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, er habe bei der Post um Verlängerung der Abholfrist ersucht, kann er daraus ebenfalls nichts für sich ableiten. Gemäss Art. 89 StPO können gesetzliche Fristen, zu denen auch die Rechtsmittelfristen gehören, nicht erstreckt werden (vgl. Urteil 6B_182/2020 vom 6. Januar 2021 E. 2.5 mit Hinweisen). Dies muss selbst dann gelten, wenn diese Tatsache dem Beschwerdeführer als Laien nicht bekannt gewesen sein sollte. Ebenso wenig kann eine gesetzliche Frist auf Grundlage einer privaten Vereinbarung zwischen dem Beschwerdeführer und der Post verlängert werden. Andernfalls könnte die gesetzliche Bestimmung gemäss Art. 89 StPO nur allzu leicht unterlaufen und ihres Sinnes entleert werden (vgl. dazu ebenfalls Urteil 6B_182/2020 vom 6. Januar 2021 E. 2.5). Es kann auch offen bleiben, ob die Post als Zustellungsgehilfin der Staatsanwaltschaft betrachtet werden kann, wie der Beschwerdeführer vorbringt.
Im Übrigen erhellt aus der Beschwerde, dass der Beschwerdeführer um die Sendung noch vor Beginn seiner Ferien wusste. Er führt selber aus, er habe am Tag des erfolglosen Zustellversuchs, dem 26. August 2019, um Verlängerung der postalischen Abholungsfrist ersucht. Unter diesen Umständen erscheint es geradezu rechtsmissbräuchlich und verdient keinen Rechtsschutz, wenn er sich nun auf den Standpunkt stellt, er habe gemeint, mit dem Begriff der Zustellung sei die tatsächliche Entgegennahme gemeint (E. 1.3, Hervorhebungen durch mich).
Die Argumentation des Beschwerdeführers finde ich so schwach eigentlich nicht. Die Post als Zustellungsgehilfin der Staatsanwaltschaft zu sehen – die Frage lässt das Bundesgericht leider offen – könnte doch schon die Auslegung der Prozessfalle Rückzugsfiktion beeinflussen. Der höchstrichterliche Hinweis auf Rechtsmissbrauch wäre jedenfalls nicht nötig gewesen.
Absolut richtiger und nachvollziehbarer Entscheid des BGer!
Die Entscheidgebühr von CHF 3’000.00 finde ich angesichts der Kürze des Entscheids und im Quervergleich mit anderen Entscheiden allerdings sehr hoch (“Abstrafung” des Beschwerdeführers? …)
Der Entscheid erscheint mir falsch. Die Zustellfiktion sollte gemäss dem Gesetzeswortlaut doch nur dann zur Anwendung gelangen, wenn eine eingeschriebene Sendung nicht abgeholt wurde bzw. eben keine tatsächliche Zustellung erfolgten konnte. Dies war hier gerade nicht der Fall: Die Sendung wurde – wenn auch erst nach Verlängerung der Zustellfrist – tatsächlich abgeholt/zugestellt, weshalb die Zustellfiktion eigentlich gar keine Rolle spielen dürfte. Oder vielleicht verstehe ich hier das Gesetz einfach falsch…
@RA: ich bin mir im Gegensatz zu @Jost Glaus auch nicht so sicher, ob der Entscheid richtig ist. Vielleicht ist meine Abneigung gegen die gesetzlichen Strafbefehls-Fiktionen einfach zu gross, um die Frage objektiv beantworten zu können.
@RA. Nein, der entscheid ist, soweit er festhält, private vereinbarungen mit der post über die verlängerung der abholfrist, seien für die zustellfiktion unbeachtlich, absolut korrekt. Die 7-tägige abholfrist nach stpo deckt sich zwar im ergebnis mit der üblichen postalischen abholfrist nach hinterlegung einer abholungseinladung. Sie ist aber unabhängig davon eine gesetzlich definierte frist. Logischerweise kann sie nicht durch vereinbarungen variiert werden. Sie dauert 7 tage ab erstem (erfolglosem) zustellversuch. Danach gilt die sendung als zugestellt und das weitere schicksal der sendung (z. B. Ob sie später tatsächlich zugestellt wird) ist irrelevant. Das mag als streng erscheinen, aber thats stpo-life. Und sorgt für rechtssicherheit (ja, das ist auch ein wesentlicher wert und aspekt der gerechtigkeit, auch wenn das manchmal verkannt wird)
Man kann damit Leben, wenn der „Rechtstaat“ wenigstens eine Begriff verwenden würde welcher der normal intelligente Bürger auch im normalen Sprachgebrauch verstehen kann. Warum ein StrafBEFEHL eine Offerte ist und warum man eine OFFERTE beeinsprachen muss konnte mir auch noch kein Mensch erklären.
Die Erwägungen gerade im Hinblick auf die Entleerung des Sinnes scheint mir nachvollziehbar, das oben stehende allerdings nicht, müsste eine Strafbefehlsofferte angenommen werden, anstatt beeinspracht, würde das auch viel weniger eine Rolle spielen. Der Beschuldigt hat 10 Tage Zeit und die Staatsanwaltschaft kann sich anschliessend wieder Monate bis Jahre Zeit nehmen um zu Entscheide ob Sie nun einen neuen Strafbefehl erlässt oder doch lieber Anklage erhebt….
Schade ist, dass das BGer die gerügten Punkte eigentlich gar nicht wirklich beurteilt hat. In der Beschwerde war nie Thema, dass der Wortlaut von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO missverständlich sein soll. Moniert wurde vielmehr die unklare Rechtsmittelbelehrung der Luzerner Staatsanwaltschaft. Statt, wie dies die Staatsanwaltschaften anderer Kantone handhaben, Art. 354 StPO zu kopieren und festzuhalten, gegen den Strafbefehl können bei der Staatsanwaltschaft innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erhoben werden, belehrt die Luzerner Staatsanwaltschaft den Empfänger dahingehend, er könne innert 10 Tagen SEIT DER ZUSTELLUNG des Strafbefehls Einsprache erheben. Ein Laie muss nun zwingend Gesetzeskenntnis haben, insbesondere um die Zustellfiktion wissen, um zu verstehen, dass in der Rechtsmittelbelehrung nicht die tatsächliche Zustellung, sondern die gemäss Art. 85 Abs. 4 StPO fingierte Zustellung gemeint ist. Das BGer meint diesbezüglich, jeder müsse wissen (Notorietät), dass eine Sendung am siebten Tag als zugestellt gilt. Diese Aussage ist nicht nur realitätsfern und technokratisch, sondern auch falsch, da eine Sendung nicht in jedem Fall am siebten Tag als zugestellt gilt, sondern nur bei bekanntem Prozessverhältnis. Muss ein Laie die Finessen der Zustellfiktion wirklich kennen, wenn selbst das BGer Mühe bekundet? Und wendet das BGer hier bzgl. der unklaren Rechtsmittelbelehrung nicht etwa den Sorgfaltsmassstab für Anwälte an, obwohl es sich beim Empfänger um einen Laien gehandelt hat? Letztlich war es in diesem Fall die Kombination der Möglichkeit einer Verlängerung der postalischen Abholfrist und der irreführenden Rechtsmittelbelehrung des Strafbefehls der Luzerner Staatsanwaltschaft, welche zum Versäumnis geführt hat. Vom BGer nicht beurteilt blieb im Übrigen die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft einen Tag nach dem erfolglosen Zustellversuch von der Post über die gewährte Abholfristverlängerung informiert worden ist. Jetzt hat sie sich nur noch zurücklehnen und abwarten müssen, wie die Einsprachefrist verpasst wird. Im Verfahren hat die Staatsanwaltschaft dann geltend gemacht, solche Abholfristverlängerung und das damit einhergehende Verpassen von Einsprachefristen sei «eher selten». Wäre es mit Blick auf die Verfahrensfairness aber nicht gerade dann von ihr zu erwarten gewesen, den Empfänger des Strafbefehls mit einem standardisierten Schreiben auf die Zustellfiktion hinzuweisen? Immerhin droht bei Unkenntnis der Zustellfiktion ein irreversibler Rechtsverlust. Wieso wird nicht direkt auf dem Strafbefehl auf die Zustellfiktion hingewiesen und damit das Strafbefehlsverfahren wenigstens ein wenig Laienfreundlicher gestaltet? Für CHF 3’000.00 hätte sich das BGer wenigstens mit den wirklich gerügten Punkten beschäftigen können, statt im Urteil den falschen Eindruck zu erwecken, dass in der Beschwerde die gesetzliche Regelung in Art. 85 Abs. 4 StPO als missverständlich moniert worden sei.
Naja. Auf Treu und Glauben konnte sich Ihr Klient wohl kaum berufen, denn er hatte vom (falschen) Wortlaut der Rechtsbelehrung des Strafbefehls ja keine Kenntnis bis nach Verstreichen der gesetzlichen Einsprachefrist.
Zunächst danke, dass Sie sich meinen Roman “angetan” haben. Ich musste mir Luft verschaffen. Zur Sache: Als der Strafbefehl meinem Klienten am Postschalter zugestellt wurde, hätte er noch eineinhalb Tage Frist gehabt, um (selbst unter Berücksichtigung der Zustellfiktion) rechtzeitig Einsprache zu erheben. Er las aber die Rechtsmittelbelehrung und errechnete 10 Tage ab der (tatsächlichen) Zustellung. Also ging er davon aus, noch genug Zeit zu haben, um sich anwaltliche Hilfe zu suchen. Übrigens: Die im Strafbefehl zur Last gelegte Sachverhalt basierte auf unverwertbaren Dashcam-Aufnahmen, einem darauf basierenden Gutachten und Befragungen Dritter, welche Befragungen entgegen Art. 76 StPO nicht protokolliert, sondern im Polizeirapport (der erst drei Monate später verfasst wurde) bloss sinngemäss wiedergegeben wurden. Das Ganze ist aus Sicht des Rechtsstaates wirklich ein Fiasko. Die beiden Gerichtsinstanzen hätten in der StPO die nötigen Tools vorgefunden, um dieses Debakel wieder geradezubiegen. Stattdessen wird meinem Klienten von höchstrichterlicher Seite sogar Rechtsmissbrauch vorgeworfen. Mein Klient wird noch lange damit zu hadern haben, auf welche unwürdige Weise diese Verurteilung zustande gekommen ist.
Danke für den Roman!
Das Phänomen, dass das Bundesgericht die eigenen Rügen und Ausführungen so wiedergibt (oder unterdrückt), dass man nicht mehr sicher ist, ob man überhaupt die richtige Rechtsschrift verschickt hat, kennt wahrscheinlich jeder, der hin wieder Lausanne anruft, auch wir Staatsanwälte. Darum ist es immer interessant, von Direktbeteiligten zu hören.
Ich nehme aus der Geschichte einmal mehr mal mit, dass dem Bundesgericht irgendwie nicht mehr so wohl ist, wenn als Folge seiner prozessualen Rechtsprechung die formelle Wahrheit zu weit von der materiellen Wahrheit abweicht und dann wird halt ergebnisorientiert gearbeitet.
Das wirkliche Problem ist aber die lächerlich kurze Einsprachefrist beim Strafbefehl, da stimme ich ausnahmsweise mit unserem werten Gastgeber überein.
Für mich als Laie ist der Entscheid des Bundesgerichts nachvollziehbar und macht auch Sinn. Mag gut sein, dass die Begründung streng juristisch fragwürdig ist doch es geht doch darum, dass “Schlaumeier” oder deren Anwälte so nicht das Rechtssystem überlasten können.
Dazu ging es im vorliegenden Fall nicht nur um Verkehrsdelikte sondern zusätzlich um Verstoss gegen das BetG, da gibts schon mal wenig bis keine Pluspunkte.
Das Bundesgericht unterstellt, dass der Beschuldigte um die Zustellung des Strafbefehls wusste, weil er die postalische Abholungsfrist verlängert hat, in diesem Fall hätte der Beschuldigte zusätzlich erklären müssen wieso er den Strafbefehl unmöglich abholen konnte oder er hätte nichts getan und der Strafbefehl wäre retourniert worden. Ein Rückbehaltung der Post war ebenfalls nicht mehr möglich, weil die Zustellung des Strafbefehls bereits scheiterte. Der Beschuldigte bzw. sein Anwalt sehen nicht gut aus.
Wenn man besseren Einblick in die Akten hätte wäre klar ob der Beschuldigte schlecht beraten wurde.
Als “Insider” liefere ich Ihnen gerne ein paar weitere Einblicke: Der Beschuldigte verreiste am Tag des erfolglosen Zustellversuchs in den Sommerurlaub und holte das Einschreiben sofort nach seiner Rückkehr ab. Er wusste lediglich, dass ihn nach den Ferien eine Sendung erwartet, nicht aber, dass es sich hierbei um einen Strafbefehl handelt.
Wenn jemand wegen einer falschen (oder zumindest irreführenden) Rechtsmittelbelehrung einen Nachteil erleidet, muss das korrigiert werden. Dies hat nichts mit Schlaumeierei zu tun. Vielmehr muss das Rechtssystem ein faires Verfahren gewährleisten können. Überlastung hin oder her.
Das Bundesgericht löst die Irrtumsfrage mit einem Kniff, indem es die Zustellfiktion als notorisch bezeichnet. Damit gilt der Irrtum als vermeidbar und ist unbeachtlich. Es wird in Zukunft also von jedermann (d.h. auch von Laien) verlangt, entsprechende Gesetzeskenntnis zu haben. Sehr heikel.
@J. Steiner
In diesem Fall ist die falsche Rechtsmittelbelehrung doch irrelevant es geht doch um die Zustellfiktion, worauf Frau Elisa bereits oben hingewiesen hat.
Es macht aus der Sicht der Justiz Sinn dies streng zu handhaben, heisst eine verpasste Frist kann allenfalls bei unentschuldigtem Versäumnis widerhergestellt werden aber es braucht dann schon eine sehr gute Begründung. Der Passus … wenn jemand mit einer Zustellung rechnen muss … lässt per se wenig Spielraum.
Ob es Schlaumeierei oder Unbeholfenheit ist kann ich nicht beurteilen da er jedoch anwaltlich vertreten ist stellt sich die Frage ob er schon vor der Zustellung des Strafbefehls anwaltlich vertreten war oder erst danach.
Wenn Sie darüber nachdenken kommen Sie gewiss zum Gleichen Schluss.
Nobody is perfect ?