Zwei Verteidiger und ein unbekanntes Gutachten
Das Bundesgericht kassiert einen Entscheid des Kantonsgerichts BL, das die Anordnung einer stationären Schutzmassnahme primär mit einem Gutachten begründet hat, das dem Beschwerdeführer nicht einmal bekannt war (BGer 1B_287/2012 vom 25.06.2012):
Der angefochtene Entscheid stützt sich in zentralen Punkten auf das Gutachten vom 29. Februar 2012. Aus den Akten ergibt sich indessen kein Hinweis darauf, dass es den Beschwerdeführern jemals zugestellt worden ist oder dass diese über dessen Eingang in Kenntnis gesetzt worden sind. Weder das Kantonsgericht noch die Jugendanwaltschaft bestreiten in ihren Vernehmlassungen im bundesgerichtlichen Verfahren die Darstellung der Beschwerdeführer. Die Rüge der Gehörsverletzung ist deshalb begründet. Eine Heilung der Gehörsverletzung fällt angesichts der Bedeutung, die dem Gutachten im vorliegenden Verfahren zukommt, ausser Betracht. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben (E. 2.3)-
Wie das möglich sein kann, lässt sich dem Entscheid nicht entnehmen. Antworten liefert ein weiterer Entscheid in der gleichen Jugendstrafsache, der ebenfalls heute publiziert wurde (BGer 1B_289/2012 vom 28.06.2012). Darin verweigert das Bundesgericht zwar die Auswechslung des amtlichen Verteidigers, billigt dem Beschwerdeführer aber zugleich einen Wahlverteidiger zu:
2.3.1 Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK und Art. 127 StPO garantieren das Recht des Beschuldigten, sich im Strafprozess durch einen Anwalt eigener Wahl verteidigen zu lassen. Das Recht auf freie Verteidigerwahl ist nicht unbeschränkt. Abs. 2 von Art. 127 StPO sieht etwa Schranken für den Fall der Mehrfachvertretung vor, Abs. 5 behält die Verteidigung der beschuldigten Person grundsätzlich Anwälten vor. Das Kantonsgericht erblickt eine weitere Schranke darin, dass dem bereits amtlich verteidigten Beschuldigten die Wahlverteidigung nur unter Nachweis einer gesicherten Finanzierung zu erlauben sei. Es geht davon aus, dass bei der Zulassung eines Wahlverteidigers der amtliche Verteidiger zwingend zu entlassen sei.
2.3.2 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz steht es einem bisher amtlich verteidigten Beschuldigten frei, eine private Verteidigung zu beauftragen (und diese dafür zu entschädigen). In der Regel wird damit zwar das Erfordernis der amtlichen Verteidigung entfallen (Urteil 6B_294/2008 vom 1. September 2008 E. 8.5 mit Hinweisen). Dies ist aber nicht zwingend der Fall. Die gleichzeitige Verteidigung durch einen amtlichen und einen Wahlverteidiger ist nicht ausgeschlossen. Es kann beispielsweise zulässig und geboten sein, einen amtlichen Verteidiger zusätzlich zu einer bereits bestehenden Wahlverteidigung zu bestellen, wenn ein Beschuldigter durch die ständige Bestellung und Abberufung von Verteidigern versucht, das Strafverfahren zu verschleppen (Urteil 1P.493/1999 vom 30. November 1999 E. 3b mit Hinweisen; vgl. auch WOLFGANG PEUKERT, in: Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Auflage 2009, N. 300 zu Art. 6 EMRK). Ähnliche Überlegungen gelten, wenn fraglich ist, ob die Finanzierung und damit das Fortbestehen der Wahlverteidigung mindestens bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens gewährleistet ist, zumal wenn die vorangehende Einsetzung einer amtlichen Verteidigung auf der Mittellosigkeit des Beschuldigten beruhte (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO).
2.3.3 Aus dem Gesagten folgt, dass es in einer Situation wie der vorliegenden angezeigt sein kann, die amtliche Verteidigung nicht zu entlassen, solange die Kosten der Wahlverteidigung nicht bis zum Abschluss mindestens des erstinstanzlichen Verfahrens sichergestellt sind (vgl. NIKLAUS RUCKSTUHL, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 2 zu Art. 134 StPO). Dagegen stellt es eine Verletzung des Rechts des Beschuldigten auf freie Verteidigerwahl dar, wenn die Verfahrensleitung es ihm von vornherein verwehrt, zusätzlich zum amtlichen einen Wahlverteidiger zu bestellen. Für die vorliegend verfügte Nichtzulassung eines Wahlverteidigers besteht somit keine Rechtsgrundlage. Die Rüge des Beschwerdeführers ist begründet.