Zwingende Beweiserhebungen nach Abschluss des zweitinstanzlichen Beweisverfahrens
Das Bundesgericht heisst in einem neuen Grundsatzentscheid eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Kantonsgericht VS gut (BGE 6B_536/2022 vom 25.08.2022, Publikation in der AS vorgesehen). Es wirft dem Kantonsgericht vor, dass es nach Abschluss des Beweisverfahrens nicht von Amts wegen (Art. 6 StPO) einen neuen Strafregisterauszug über den Beschuldigten eingeholt hat, zumal die dadurch fehlende Information für den Berufungsentscheid relevant gewesen wäre.
Die Vorinstanz trägt in ihrer Vernehmlassung vor, sie habe keine Kenntnis oder Mitteilung erhalten, dass bei der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren hängig und mit Strafbefehl abgeschlossen worden sei. Damit weist sie auf den entscheidenden Punkt hin. Denn sie hätte vor dem Erlass des angefochtenen Urteils einen aktuellen Strafregisterauszug über den Beschwerdegegner einholen müssen. Auf diese Weise hätte sie erkannt, dass seit dem 29. September 2021 ein weiteres Strafverfahren gegen ihn hängig war. Nachdem am 6. November 2021 der Strafbefehl ergangen war, hätte die Vorinstanz erkennen können, dass der Beschwerdegegner verurteilt worden war, weil er am 21. Juli 2021 eine einfacher Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung zum Nachteil seiner damaligen Freundin begangen hatte. Nach dem 22. November 2021 wäre für die Vorinstanz ersichtlich gewesen, dass der Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen war (E. 2.4.2).
Die Zeitachse stellt sich wie folgt dar:
- 15.06.2021: Berufungsgericht holt Strafregisterauszug ein
- 29.09.2021: Eingang eines neuen Verzeigungsberichts gegen den Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft
- 06.10.2021: Berufungsverhandlung
- 06.11.2021: Erlasse eines Strafbefehls gegen den Beschuldigten
- 22.11.2021: Eintritt der Rechtskraft des Strafbefehls
- 04.03.2022: Urteil des Berufungsgerichts mit anschliessender schriftlicher Eröffnung.
Die Staatsanwaltschaft hat das Urteil des Kantonsgerichts mir Erfolg (und unzulässigen Noven zur Stimmungsmache) angefochten, obwohl sie bereits eine Woche vor der Berufungsverhandlung und Monate vor dem Berufungsurteil Kenntnis vom neuen Strafverfahren hatte, ohne dies dem Obergericht mitzuteilen.
Das Urteil heisst im Grunde nichts anderes, als dass das Beweisverfahren erst mit dem Urteil abgeschlossen ist und dass die Parteien beliebig Beweismittel nachreichen können, wenn sie für das Urteil relevant sind. Das Gericht muss sogar von Amts wegen im Rahmen der Urteilsberatung nach allenfalls nicht bekannten Informationen (!) suchen, die für das Urteil relevant sein könnten.
Genau der Beschuldigte Verhält sich Rechtsmissbräuchlich wenn er solche ihm bekannte Tatsachen erst vorträgt wenn der Entscheid nicht nach seinem Gusto ausfällt womit er keinen Rechtsschutz verdient…wenn zwei das gleiche tun ist es eben nicht das gleiche und das faire Verfahren ist reine Illusion
Schön, sind es diesmal nicht die Aargauer.. Sehr schräger Entscheid. Jedenfalls müsste diesfalls das Gericht den Parteien das rechtliche Gehör gewähren und das Beweisverfahren nochmals eröffnen. Ziemlich übler „Besserwisserstil“ die Urteilsbegründung des Bundesgerichts, welche in der Sache völlig daneben ist. Es bleibt einzig noch die Frage, weshalb das Walliser Obergericht nach der HV sechs Monate benötigt, um den Entscheid zu fällen. Hängt aber wohl mit der Wintersaison zusammen, in welcher im Wallis niemand Zeit hat für solche Nebensächlichkeiten.